Mögen tut man ihn erst einmal nicht, diesen 80jährigen Carl Krueger. Vor Jahrzehnten aus Ostdeutschland emigriert, lebt er seitdem mit Frau Helen und der Adoptivtochter Lisa in den USA.
Er war dort als Chemieprofessor sehr erfolgreich und mit seinem Charisma besonders bei „seinen“ Studentinnen begehrt. Das war damals lange vor der „Me Too Bewegung“ bei Männern in seinen Rängen ja nichts ungewöhnliches. Seine Ehe muss viele Affären aushalten. Carl lebt sich selbstverständlich und rücksichtslos aus, es gibt viel Streit, aber keine wirkliche Auseinandersetzung. Zitat: „Es war so einfach gewesen, den Konflikten auszuweichen: nie hatte er sich so lebendig, so mit sich im Reinen gefühlt, wie zu Beginn einer Affäre“. Helen hält irgendwie durch, schafft es nicht, wie so viele Frauen an der Seite dieser Halbgötter, sich zu trennen.
Nun ist Carl hoch betagt und Helen unheilbar an Krebs erkrankt. Zwischen den beiden keine Nähe mehr. Carl möchte Helen helfen, doch diese weist ihn unerbittlich zurück. Sie wird von Tochter Lisa gepflegt, die dem Vater ebenso die kalte Schulter zeigt und die Schuld am Unglück der Mutter gibt. Helen stirbt, ohne Versöhnung.
Da steht er plötzlich, der „alte Mann“. Verunsichert, einsam, zerrissen. Der Erfolgreiche, der Begehrte ist verschwunden. Zitat: „Wie man sich selber so satt haben kann“
Die Freunde sind verstorben oder auch garnicht vorhanden. Seine Tochter schaut eher aus Pflichtbewusstsein nach ihm und wenn sie fragt, ob er etwas braucht, kommt nur ein stolzes „Nein, alles gut“. Nur keine Blöße geben, da bleibt Carl sich wahrhaft treu. Dabei ist nichts gut, er leidet sehr unter diesem NICHTS.
Beeindruckend wie die Autorin dann in die Tiefen dieses Mannes eindringt. Ohne Melancholie, eher pragmatisch. Im Inneren dieses Menschen lässt sie es arbeiten, bricht etwas auf. Und das bewirkt zumindest bei mir immer mehr Neugierde auf diesen Mann, sogar ein Hauch Mitgefühl.
Dann schlägt ausgerechnet Lisa vor, gemeinsam nach Deutschland zu reisen. Um ihn mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren, ihm näher zu kommen, den Vater endlich besser zu verstehen? Diesen Mann, der immer nur seinen Weg gegangen ist, ohne Rücksicht auf andere.
In Deutschland trifft er nach Jahrzehnten auch auf seine zwei Brüder. Der todkranke Konrad verweist ihn des Hauses, er hat Carl die Flucht in den Westen nie verzeihen. Noch ein Abschied ohne Versöhnung.
Doch mit dem Sonderling Hermann besucht Carl viele Orte der Kindheit. Typisch Carl, gibt er sich eher emotionslos und distanziert. Doch die beiden Brüder kommen sich unerwartet nah. Zitat: „Im Nachhinein wußte er nicht wie es dazu kommen konnte – nahm er Hermanns Hand, streichelte mit dem Daumen die pergamentzarte Haut und sagte: Genau dafür mag ich dich. Dafür, dass du bist, meine ich“. Das rührt!
Auch Carl und Lisa bewegen sich aufeinander zu. Setzen sich auseinander, konfrontierend und schonungslos, aber dadurch endlich Nähe und Offenheit schaffend. Schön, das zu spüren. Und auch die Hoffnung, dass es trotz aller Widrigkeiten Zusammenhalt und Zuflucht geben kann. Wenn man bereit dazu ist.
Annette Mingels Sprache bleibt klar und deutlich. Sie beschreibt diesen Typus Alpha-Mann, als müsste es mal laut ausgesprochen werden. Und das ist auch gut so. Aber sie bleibt Carl Krueger gegenüber auch fair, gibt ihm eine Chance.
Und er nimmt diese an. Ja, nicht ganz freiwillig, angetrieben durch bittere Wahrheiten. Ich mag ihn im Laufe seines Prozesses immer mehr. Und seien wir ehrlich. Wie schwer ist es für uns Menschen, besonders im fortgeschrittenen Alter zu erkennen, dass einiges auch durch unser Zutun weniger gut gelaufen ist. Nichts mehr rückgängig machen zu können, sich eventuell dem eigenen Egoismus zu stellen. Ich habe diesen Roman neben der anfänglichen Schwere als zunehmend hoffnungsvoll und klärend empfunden.